„Umstellungsbegutachtung“ von Menschen mit Behinderungen im Bereich vollstationärer Einrichtungen

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Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Monteiro (SPD)
vom 02. März 2011 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 07. März 2011) und Antwort

 

„Umstellungsbegutachtung“ von Menschen mit Behinderungen im Bereich vollstationärer Einrichtungen

 

Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt:

 

1.
Warum wurden die Umstellungsbegutachtungen durchgeführt?

Zu 1.: Mit der Veränderung der bundesweiten Rechtsgrundlagen im § 75 SGB XII bzw. im ehemaligen § 93 BSHG wurde von Kostensätzen mit Bestandteilen wie Personalkosten, Sachkosten und Miet-/Investitionskosten umgestellt auf Vereinbarungen mit den Bestandteilen Grundpauschale, Maßnahmepauschale und Investitionsbetrag. Die Maßnahmepauschale sollte durch Bildung von Hilfebedarfsgruppen kalkuliert werden. In Berlin erfolgte die inhaltliche und kalkulatorische Umstellung im Jahr 2001 auf Hilfebedarfsgruppen. Auf der Suche nach einem bedarfsorientierten Begutachtungsmodell einigten sich die Vertragspartner, nämlich die Liga und die Verwaltungsseite auf die Verwendung des sog. Metzler Begutach-tungsmodell nach Frau Dr. Heidrun Metzler von der Uni-versität Tübingen.

In den folgenden Anwendungsjahren stellten sich zunehmend Unlogiken heraus. Die Uneinheitlichkeit und Intransparenz der Angebote wurden u.a. vom Rechnungshof kritisiert, bei vermeintlich gleicher Leistung existieren Preisunterschiede bis zu 150 %.

Im Jahresbericht des Rechnungshofes wurden die jeweiligen Hilfebedarfsgruppen mit den Preisen pro Platz und Betreuungstag sowie den Differenzen pro Jahr gegenübergestellt. Insbesondere in der HBG V intern wird dies deutlich mit einem Differenzbetrag von über 53.000 € pro Person/pro Tag in derselben HBG.

(eine ausführlichere Darstellung finden Sie im beigefügten PDF am Anfang des Artikels)

Die Darstellung zwischen Hilfebedarf, Bedarfsdeck-ung und Verpreislichung musste systemisch neu aufgestellt werden, der dem Metzler System unterlegte Wertemaßstab in Form von abstrakten Punkten war dazu nicht geeignet. Vor diesem Hintergrund wurde eine zeitbasierende Umstellung des Systems anhand der tatsächlichen Leistungserbringung in den Heimen gemeinsam mit der Liga entwickelt. Für die zeitnahe Zuordnung der Menschen in die Bedarfsorientierung des modifizierten Metzler Verfahrens einzuordnen und nicht über Jahre dem Fallmanagement zuzumuten, wurde ein externer Gutachter – nach europaweiter Ausschreibung – gewonnen.

 

2.
Welchen Verhandlungsvorlauf mit den Trägern der vollstationären Einrichtungen gab es in diesem Prozess?

Zu 2.: Seit 2002 wird mit den Trägern bzw. der Liga um ein transparentes bedarfsorientiertes Begutachtungssystem verhandelt. Um die Intensität der Gespräche und Verhandlungen zu verdeutlichen, werden die gravierenden Beschlüsse der Kommission 75 zum Projekt Heime benannt: 2/2004; 5/2005, 6/2006; 11/2008; 3/2009, 9/2009; 2,3,4,5/2010, 9/2010; 2/2011. In 2006 wurde die Leistungsbeschreibung für den Leistungstyp Betreutes Wohnen im Heim für erwachsene gekündigt.

Anschließend wurde gemeinsam die sog. Hammerschick Untersuchung I und II von Liga und Senatsve-waltung durchgeführt. Diese führte über eine gemeinsame Projektbegleitung zu dem neuen modifizierten, zeitbasierenden Metzler Begutachtungsverfahren mit sechs Leistungsgruppen statt bisheriger 3 Hilfebedarfsgruppen im Heim.

 

3.
Welches Ziel soll in welchem zeitlichen Rahmen erreicht werden ?

Zu 3.: Gem. Beschluss der Kommission 75 vom 08.03.2011, Beschluss Nr. 2/2011, wird die Umstellung auf das neue System über einzelvertragliche Angebote zum 01.05.2011 budgetneutral erfolgen. Daneben wird es Vertragsangebote für den Leistungstyp – Angebot zur Beschäftigung, Förderung und Betreuung (ABFB) geben, der von den Trägern hinsichtlich der Standards bis zum 31.12.2012 erreicht werden soll. Ab 2012 beginnt die Konvergenzphase in mehreren Schritten – unterfüttert durch eine Evaluation in 2013 – die bis zum 31.12.2017 dauert. Bis dahin sollen einheitlich die Sollleistungszeiten der Leistungsgruppen erreicht werden.

 

4.
Wie viele Menschen mit Behinderungen in statio-nären Einrichtungen in Berlin wurden im Rahmen der Umstellungsbegutachtung begutachtet?

Zu 4.: Es wurden 3176 Menschen begutachtet.

 

5.
Wie sieht die Verteilung der Hilfebedarfsgruppen vor und nach der Umstellungsbegutachtung aus? Wie bewertet der Senat das Ergebnis?

Zu 5.: Die bisherige Systematik hat im stationären Bereich 5 Hilfebedarfsgruppen vorgesehen. Tatsächlich haben nur drei Gruppen Anwendung gefunden, die HBG 1 und 2 werden dem ambulanten Versorgungssystem zugeordnet. Im Sinne einer differenzierteren Darstellungs-möglichkeit haben sich die Vertragspartner Liga und Land Berlin auf sechs Leistungsgruppen verständigt. Mit dem gleichen Budget erfolgt nunmehr die preisliche Verteilung auf sechs statt auf drei Gruppen. Die Verteilung der Leistungsgruppen und der Hilfebedarfsgruppen ist allein aus kalkulatorischen Gründen nicht miteinander vergleichbar. Zudem wurde aus den unterschiedlichen Gutachten deutlich, dass in den Einrichtungen auch Quersubventionierungen stattgefunden haben, d.h. die Hilfebedarfsgruppe drei wurde im Einzelfall durch die HBG V mitfinanziert.

Mit der stringenten Umsetzung der Zielorientierung in den Begutachtungen haben sich einheitliche Regeln herausgebildet, die vorher nicht oder nur ansatzweise angewendet wurden. ein Vergleich der Zuordnungen von vorher zu nachher ist deshalb unzulässig. nachrichtlich werden die Daten aus dem bisherigen System der Hilfe-bedarfsgruppen aufgezeigt.

 

6.
Wie viele Bescheide sind bislang ergangen?

Zu 6.: Nach mündlicher Mitteilung der Bezirke sind rd. 3000 Bescheide ergangen.

 

7.
Wie viele Widersprüche gegen diese Bescheide liegen den Bezirksämtern vor?

Zu 7.: Da noch nicht alle Bescheide ergangen sind bzw. die Widerspruchsfristen noch nicht abgelaufen sind, ist bei rd. 3000 Bescheiden von ca. 1000 Widersprüchen auszugehen. Dabei handelt es sich um ca. 750 Widersprüche, die sich gegen das Verfahren, die Tätigkeit der Senatsverwaltung, gegen fehlende Verpreislichung etc. richten. Personenbezogene Widersprüche, die sich gegen einzelne Items richten, werden bei ca. 200 bis 250 liegen. Aktuelle Daten aus allen Bezirken liegen noch nicht vor.

 

8.
Der Beschluss 03/2010 der Kommission 75 zur Durchführung der Umstellungsbegutachtung sieht in Punkt 2, letzter Absatz vor: bei nicht einvernehmlichen Entscheidungen wird ein zeitnahes Verfahren zur Problembereinigung zur Verfügung gestellte, wie auf der Fachebene weitgehend Konsens über den Hilfebedarf (Auftrag an eine Vermittlungsstelle) hergestellt wird. (Es muss vermieden werden, dass Bescheide massenweise ins Rechtsmittel gehen). Wurde von diesem vereinbarten Verfahren Gebrauch gemacht? falls nicht: warum wurde dies unterlassen?

Zu 8.: Von diesem Verfahren konnte nur am Ende in Einzelfällen Gebrauch gemacht werden, da eine generelle Verständigung zu einer Vermittlungsstelle zwischen den Beteiligten nicht erreicht werden konnte, wegen erheblicher zeitlicher Verzögerungen weitere Zwischenstationen nicht möglich waren und letztlich die interessengeleiteten Wahrnehmungen nicht auf einen einvernehmlichen Nenner gebracht werden konnten.

 

9.
Wer wurde mit der Durchführung notwendiger Zweitbegutachtungen beauftragt?

Zu 9.: Der externe Auftragnehmer, die Firma I. in Verbindung mit der Firma T. und der Universität Koblenz wurden im Rahmen von Widerspruchsverfahren mit der Nachbegutachtung beauftragt. Dies erfolgte als sog. Nachbestellung nach dem Muster der Begutachtungen durch den Medizinischer Dienst der Krankenversicherung(MDK) im Bereich der Pflege.
Für die Nachbegutachtungen werden nur langjährig erfahrene Fachkräfte eingesetzt.

 

10.
In welcher Form wird es eine Anhörung der Be-troffenen geben?

Zu 10.: In jeder der stattgefundenen Begutachtungen war und ist die Beteiligung der Betroffenen durch ihre persönliche Anwesenheit zu gewährleisten und sie waren und sind aktiv in die Bedarfsfeststellung einzubinden.

 

11.
Sind als Ergebnis der Umstellungsbegutachtung Einsparungen zu Lasten der Menschen mit Behinderungen zu befürchten?

Zu 11.: Es sind ausdrücklich keine Einsparungen zu befürchten. Der Senat hat sich in allen Schreiben und Beschlüssen der Kommission 75 vertraglich an eine Budgetneutralität für das Land Berlin gebunden.

Berlin, den 09. Mai 2011

In Vertretung
Rainer-Maria F r i t s c h
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Senatsverwaltung für Integration,
Arbeit und Soziales
(Eingang beim Abgeordnetenhaus am 17. Mai 2011)