Protokoll der Veranstaltung „Daheim statt Heim“ am 22. April 2009
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Christian Gaebler, begrüßt die rund 100 Gäste. Er betont angesichts des Demografischen Wandels die besondere Notwendigkeit der Integration von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen.
Karin Evers-Meyer, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, erklärt, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verleihe der Forderung nach Teilhabe und selbstbestimmtem Leben neues Gewicht. Die gesetzliche Lage ist zwar schon gut in Deutschland, allerdings kann das Recht auf Teilhabe in der Praxis oft nicht eingelöst werden.
Zum selbstbestimmten Wohnen gehört die freie Entscheidung zwischen stationären und ambulanten Angeboten. Um diese zu gewährleisten, müssen ambulante Angebote und barrierefreier Wohnraum gefördert werden. Noch immer wird der Ausbau stationärer Einrichtungen stärker gefördert als ambulante Angebote. Hier gilt es, umzusteuern.
Ein Aktionsplan muss konkrete Schritte zur Umsetzung der UN-Konvention festlegen und den gesetzlichen Regelungsbedarf erfassen. In diesem Zusammenhang ist eine Reform der Eingliederungshilfe zu prüfen.
Die Konvention sichert die Menschenrechte durch Inklusion. Das Recht auf Teilhabe setzt Standards, denen sich das bestehende System unterzuordnen hat.
Daheim statt heim – das ist ein realistisches Ziel, aber auch eine große Herausforderung.
Die Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Silvia Schmidt, ist die ehrenamtliche Vorsitzende der Bundesinitiative „Daheim statt Heim“. Ziel der Initiative ist die Verwirklichung der Rechte älterer Menschen und Menschen mit Behinderung auf ein Leben in der eigenen Häuslichkeit und in der Gemeinde statt in der Sonderwelt „Heim“. Die Betroffenen sollen selbst entscheiden, wo sie leben möchten.
Die Initiative fordert den Baustopp für neue Heime und den Abbau bestehender Heimplätze zugunsten eines flächendeckenden Ausbaus ambulanter Dienstleistungen. Berlin ist im Bereich ambulanter Angebote bereits Vorreiter. Es gibt genug Geld im System, es muss nur personenbezogen verwendet werden. Ambulante und stationäre Angebote müssen in der Finanzierung gleichgestellt werden. Die Regelung im SGB XII, §26, wonach der Grundsatz ambulant vor stationär nur gilt, solange ambulante Dienste nicht teurer sind, muss verändert werden.
Die Eingliederungshilfe muss personenzentriert ausgerichtet werden, die Leistungen dürfen nicht länger an die Institution gebunden sein.
Wir brauchen flächendeckende Assistenzsysteme für Junge und Alte mit Unterstüzungsbedarf. Pflegende Angehörige brauchen ebenfalls bessere Unterstüzung. Wichtig bei den anstehenden Reformen ist die Beteiligung der Betroffenen nach dem Grundsatz: „Nichts über uns ohne uns“.
Karl Finke, Bundessprecher von Selbst Aktiv – Netzwerk behinderter Menschen in der SPD, zitiert eine Umfrage, wonach 85% aller Befragten auch im Alter zu Hause wohnen möchten. Tatsächlich leben aber 70% aller Menschen einmal im Heim.
Wir müssen unsere Gesellschaft inklusiv gestalten. Das gemeinsame Leben von Behinderten und Nicht-Behinderten im Gemeinwesen muss alltäglich sein, so kommen auch gegenseitige Lernprozesse in Gang.
Nötig ist ein behinderungsbedingter Nachteilsausgleich. Menschen mit Behinderung müssen genauso gut leben können wie Menschen ohne Behinderung.
Barrierefreiheit, Inklusion und Teilhabe müssen Eckpunkte der Politik sein. Teilhabe bedeutet dabei: mit entscheiden. Das Gleichstellungsgesetz muss unter diesen Gesichtspunkten nachgebessert werden.
Rudolf Kujath, Geschäftsführer der SOPHIA Berlin GmbH, stellt die Arbeit seines Unternehmens vor. SOPHIA ist ein bundesweit vertretenes Unternehmen und bietet auf individuelle Bedürfnisse abgestimmte Serviceleistungen und, soweit erforderlich, Betreuung rund um die Uhr. Ziel ist es, älteren und behinderten Menschen den Verbleib in ihrer Wohnung zu ermöglichen. Dazu nutzt SOPHIA die Mittel der modernen Kommunikation. Ob über die Haus-Notrufanlage, das „intelligente“ Sicherheitsarmband, das Telefon oder über die Bildschirmkommunikation – die Teilnehmer auf Wunsch jederzeit in Verbindung mit der Zentrale. Die SOPHIA-Mitarbeiter organisieren Einkaufshilfen, Pflegekräfte und Handwerker oder stehen einfach für ein Gespräch zur Verfügung. SOPHIA arbeitet mit Ehrenamtlichen und qualifiziert sie auch. SOPHIA hilft bei Wohnraumanpassungen.
Das SOPHIA-Angebot ist nicht kostendeckend. Die Wohnungsbaugesellschaften subventionieren das Angebot zum Teil. Aus meiner Sicht gehört es zur sozialen Verantwortung kommunaler Unternehmen, solche Angebote zu unterstützen.
Reinald Purmann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband erklärt, Berlin verfüge bei den ambulanten Angeboten im Bereich der Behindertenhilfe über einen Vorsprung. Eine Studie prognostiziert einen erheblichen Ausbaubedarf im stationären Bereich, bis 2015 um 33%, bis 2026 um 100%. Offen ist, wie das finanziert werden kann.
Der ambulante Bereich ist zur Zeit hohem Einspardruck ausgesetzt. Das Fallmanagement in den Ämtern hat sich sehr negativ ausgewirkt, da es vorrangig um Einsparungen bei den Eingliederungshilfen geht.
Die Hilfen müssen den Menschen folgen. Ausbau und Verstärkung der ambulanten Struktur sind große Zukunftsaufgaben.
Die Politik scheint zwei sich ausschließende Wege zu verfolgen, um Qualität in der Versorgung zu erreichen.
Der Weg des Ordnungsrechts im ambulanten und stationären Bereich wird beispielsweise mit dem Berliner Heimgesetzentwurf beschritten. Die Politik vergrößert damit die Aufgaben der Heimaufsicht, die ihre gesetzlichen Aufgaben schon jetzt laut Auskunft ihres Leiters nicht erfüllen kann.
Der Weg des freien Markts mit Deregulierung und Persönlichem Budget suggeriert, Menschen mit Behinderung seien Kund/-innen, die ihre Versorgung beliebig einkaufen könnten.
Wir als Paritätischer denken, man sollte kein Gegeneinander aufbauen. Zentral beim Thema Daheim statt Heim muss eine zwingend notwendige Verbesserung der Versorgungsstruktur aus der Perspektive des betroffenen Menschen sein.
Die Schaffung eines inklusiven Gemeinwesens ist eine zentrale Aufgabe. Das Gemeinwesen muss sich öffnen, Angebote entwickeln für alle Bürger.
Der Paritäter wirkt mit am NUEVA-Projekt. Das Projekt könnte die Frage beantworten, wie objektive fachliche Systeme Selbstbestimmung messen können, ohne dass interessengeleitete Strukturen eine Rolle spielen. Das könnte ein Weg sein zwischen Markt und staatlicher Aufsicht.
Birgit Monteiro, Ansprechpartnerin der Fraktion für Menschen mit Behinderung, eröffnet die Fragerunde.
Publikum:
Die Gesetzeslage ist nicht so gut, wie bisher dargestellt. Der Leistungskatalog im SGB V muss ergänzt werden. Ein Schreiben dazu wurde von der zuständigen Ministerin nur unzureichend beantwortet.
Publikum:
Was ist das Hamburger Programm?
Publikum:
Für Rollstuhlfahrer ist das Kurt-Schuhmacher-Haus unzugänglich. Auf Nachfrage erklärte der Landesverband, es gebe eine behindertengerechte Toilette! Das kann nicht die Lösung sein.
Publikum:
Ich fordere ein Programm zur barrierefreien Stadt, finanziell ähnlich gut ausgestattet wie die Fahrradwegförderung.
Silvia Schmidt sagt zu, sich mit der ersten Fragestellerin in Verbindung zu setzen.
Karl Finke erklärt, dass Hamburger Programm sei das Grundsatzprogramm der SPD, verabschiedet auf dem Hamburger Bundesparteitag im Oktober 2007. Es wurde von Selbst Aktiv mitgestaltet.
Birgit Monteiro weist darauf hin, dass der Senat zur Zeit ein Demografiekonzept erarbeitet, das sich auch mit der nötigen Umgestaltung des öffentlichen Raums befasst. Die Bedürfnisse behinderter Menschen werden dabei berücksichtigt. Nötig ist aber auch ein allgemeiner Bewußtseinswandel, damit Barrierefreiheit von allen Entscheider/-innen grundsätzlich mitbedacht wird.
Publikum:
Barrierefreiheit bedeutet für Rollstuhlfahrer/-innen und Blinde unterschiedliches. Bordsteinabsenkungen sind für Blinde schwierig, ebenso weiße Streifen als Markierung für Radwege. Hier müssen Kompromisse gefunden werden, Behindertenbeauftragte und Verbände beteiligt werden.
Birgit Monteiro sichert zu, dem Hinweis auf die Unzugänglichkeit des Kurt-Schuhmacher-Hauses nachzugehen.
Silvia Schmidt betont das Recht auf Wahlfreiheit. Menschen mit Behinderungen müssen alle Einrichtungen von der Kita bis zur Schule offen stehen. Behinderte und Nichtbehinderte müssen zu mehr Miteinander finden. Bei der Weiterentwicklung der Heimgesetzgebung in Deutschland ist Verbraucherschutz ein wichtiges Thema. Damit die Verbraucher sich angesichts der verschiedenen Angebote orientieren können, sind verständliche Bewertungskriterien und die Veröffentlichung von Prüfergebnissen nötig.
Reinald Purmann erklärt, die Perspektive der Kund/-innen in den Heimen sei zentral. Eine unabhängige Bewertung ist nötig, am besten durch Menschen mit Behinderungen selbst.
Publikum:
Leider gibt es Fälle, in denen altersbehinderte Menschen, die eine Zeit lang z.B. wegen Flüssigkeitsmangel geistig verwirrt sind, von ihren Pflegern in einem Heim untergebracht werden. Die Wohnung wird aufgelöst, und die Betroffenen haben kaum eine Chance, wieder aus dem Heim auszuziehen.
Publikum:
Die Förderungen für rollstuhlgerechte Wohnungen laufen aus, die Mieten steigen, ich kann mir meine Wohnung nun nicht mehr leisten. Muss man erst Sozialhilfeempfängerin werden, um über das Pflegegeld hinaus Unterstützungsleistungen zu erhalten?
Publikum:
Für einige ist das Heim die geeignete Lösung. Die Qualifizierung von ambulanten Dienstleistern ist verbesserungsbedürftig.
Blinde sind auf Orientierungshilfen in der Stadt angewiesen, ebenso wie Kinder und Ältere. Ein Abbau von Markierungen ist problematisch.
Publikum:
Ich habe ohne Erfolg versucht, für meine Tochter das Persönliche Budget zu erklagen. Von Frau Evers-Meyer wurde ich auch nicht unterstützt.
Publikum:
Viele Eltern behinderter Kinder haben den Eindruck, das Persönliche Budget werde zum Sparen missbraucht. Die Eltern sind damit überfordert, Kostensätze für bestimmte Leistungen frei auszuhandeln. Hier besteht Regelungsbedarf.
Publikum:
Das Integrationsamt, bisher nur für die Arbeitswelt genutzt, könnte seine Zuständigkeit erweitern auf die Bereiche Wohnen, Schule, Alltagsleben. Wir brauchen einen Leistungskatalog für Menschen mit Behinderungen, in dem auch die sofortige Kostenübernahme von Umbaumaßnahmen festgeschrieben ist.
Publikum:
Ist künftig ein Assistentengesetz geplant?
Publikum:
Es gibt Fälle, in denen kommen ältere Menschen aus ihrer Wohnung ins Krankenhaus, dort wird von Ärzten eine Heimeinweisung veranlasst. Wie ist das zu verhindern?
Publikum:
Warum ist der Kostensatz für die ambulante Unterstützung für behinderte Menschen in eigenen Wohnungen so niedrig?
Publikum:
Bei den Menschen herrscht großer Unmut, was den Hilfsmittelkatalog für unterstützende Geräte betrifft. Die Kassen verweigern Leistungen mit der Begründung, die gesetzliche Kasse habe nicht eine Behinderung auszugleichen, sondern nur die gebräuchlichsten Gewohnheiten zu ermöglichen. Der Hilfsmittelkatalog muss überprüft werden.
Silvia Schmidt erklärt, die Bundesinitiative unterstütze Menschen juristisch, die unrechtmäßig in Heimen untergebracht wurden. Die SPD tritt ein für den behinderungsbedingten Nachteilsausgleich.
Die Beratung zum Persönlichen Budget muss verbessert werden, zur Kostenreduktion darf es nicht missbraucht werden.
Der Hilfsmittelkatalog ist nicht schlecht, bei den Kassen muss sich etwas verändern. Eine Bürgerversicherung ist Ziel der SPD, sie würde die Probleme grundsätzlich lösen.
Karl Finke resümiert, es sei viel erreicht worden, und es müsse noch viel erkämpft werden. Es muss einen behinderungsbedingten Nachteilsausgleich geben. Entsprechende Anträge werden für den Bundesparteitag am 14. 6. vorbereitet. Alle sind aufgerufen, sich für Teilhabe, Mitbestimmung und Barrierefreiheit zu engagieren.
Birgit Monteiro bedankt sich bei den Mitwirkenden. Die Fraktion wird die Veranstaltung auswerten und bei Bedarf im nächsten Jahr wiederholen.