Gewalt gegen Frauen mit Behinderung

PDF (49,5  kB) Kleine Anfrage: Gewalt gegen Frauen mit Behinderung, Drucksache 12304

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Monteiro (SPD)
vom 09. Juni 2008 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. Juni 2008) und Antwort
Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt:

1. Wie viele Fälle von Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderung gab es in Berlin seit Vorlage des Behindertenberichtes 2006 im August 2006 (DS 15/5469)?

Zu 1.:Der Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderung und ihrer Teilhabe in Berlin – Behindertenbericht 2006 – enthielt keine Fallzahlen zur Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderung.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird erst mit der bundesweiten Umsetzung des Einzeldatensatzes (EDS) in PKS-neu, nicht vor dem 01.01.2009, zu derartigen Fragestellungen aussagefähig sein.

Eine entsprechende verlaufsstatistische Datawarehouse- (DWH) Auswertung in POLIKS (Polizeiliches Landessystem zur Information, Kommunikation und Sachbearbeitung) zu behinderten weiblichen Opfern ergab jedoch folgende Daten:

Anzahl der Fälle von Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderung:

Typ 2006 2007
alle Straftaten 248 252
Gewalttaten 113 103

2. Um welche Art von Gewalt handelte es sich (Raub, Überfall, sexuelle Gewalt usw.)?

Zu 2.:Anzahl der Fälle von Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderung nach Delikten

Delikt 2006 2007
Beleidigung 9 8
Beleidigung auf sexueller Grundlage 9 4
Körperverletzung 48 44
Körperverletzung öffentlich (Parkanlagen, Straßen) 0 6
Nötigung, Freiheitsberaubung, Bedrohung 9 9
Raub 18 21
Vergewaltigung, schwere sexuelle Nötigung 8 2
Weitere Sexualdelikte 9 8
Misshandlung Kinder/Schutzbefohlenen 1 1
Mord und Totschlag 1 0
Sexueller Missbrauch von Kindern 1 0
gesamt 113 103

Quelle: DWH Abfrage vom 07.07.08

3. Wie viele der Opfer sind Migrantinnen? Welchen Aufenthaltsstatus haben sie?

Zu 3.: Eine Auswertung nach Migrationshintergrund ist nur hinsichtlich der Staatsangehörigkeit möglich. Zum Aufenthaltsstatus können keine Angaben gemacht werden.

Anzahl der nichtdeutschen weiblichen Opfer mit Behinderung (seit POLIKS-Start 01.04.2005 bis 31.12.2007):

Ländername Anzahl
Türkei 12
Libanon 3
Jugoslawien 2
Aserbaidschan 1
Bosnien und Herzegowina 1
Iran, Islamische Volksrepublik 1
Kamerun 1
Kanada 1
Niederlande 1
Polen 1
Serbien und Montenegro 1
Spanien 1
nicht bekannt 11

4. In wie vielen Fällen handelt es sich dabei um häusliche Gewalt, und in wie vielen Fällen um Gewalt in Einrichtungen, Werkstätten, bei Fahrdiensten usw.?

Zu 4.: Eine Auswertung zu Fällen der Gewalt in Behinderteneinrichtungen ist nicht möglich. Im Jahr 2006 wurden vier Fälle der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderung bekannt. Im Jahr 2007 waren es neun Fälle.

5. Welche Verbesserungen bei der Erfassung der Datenlage gab es seit der Einführung des Computersystems POLIKs, um Fälle von Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderung zu ermitteln?

Zu 5.: Seit der Einführung von POLIKS ist es möglich, gezielte Recherchen zu sämtlichen im Rahmen der Vorgangsverwaltung erfassten Merkmalen durchzuführen. So sind z. B. für Berlin Fälle, bei denen behinderte Personen Opfer waren, seit dem 01.04.2005 auswertbar. Jedoch sind nicht alle Rechercheergebnisse repräsentativ, da sich die Felder mit Pflichteingaben zugunsten einer effektiven Polizeiarbeit auf das zwingend erforderliche Maß beschränken.

6. Wie wurden die Empfehlungen der Fachtagung „Scheinbar nirgendwo und doch überall – Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen mit Behinderungen“ 2004 in konkrete Maßnahmen zur Gewaltprävention umgesetzt?

Zu 6.: Im Jahr 2004 war es noch nicht möglich, das Merkmal Behinderung zu einer Opferperson im damaligen Vorgangsbearbeitungssystem ISVB (Informationssystem Verbrechensbekämpfung) statistisch auswertbar zu erfassen. Dies wurde mit der Einführung von POLIKS umgesetzt, so dass die Gefährdung dieses Opferkreises nunmehr besser eingeschätzt werden kann. Die bis dato erfolgten fachübergreifenden Weiterbildungsmaßnahmen (u. a. in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung) sind weiterhin fester Bestandteil polizeiinterner Präventionsmaßnahmen.

Im Zusammenhang mit der Umsetzung der Empfehlungen der Fachtagung hat sich das Symposium zum Thema „Vergewaltigung – eine allgegenwärtige Menschenrechtsverletzung“ vom 25. November 2007, dem „Internationalen Tag für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ mit den behinderungsspezifischen Anforderungen an die Prävention sexualisierter Gewalt auseinandergesetzt. Das Symposium wurde von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen in Kooperation mit der „Berliner Fachrunde sexuelle Gewalt“ und der „World Childhood Foundation“ ausgerichtet. Die Ergebnisse des Symposiums sind in das „Gleichstellungspolitische Rahmenprogramm (GPR)“ Handlungsfelder „Behinderte Frauen“ und „Gewalt gegen Frauen“ – eingeflossen und werden in der Zielsetzung berücksichtigt. Das GPR gilt für den Zeitraum von 2008 – 2011. Der Senat wird sich auch zukünftig für die Prävention sexueller und häuslicher Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderung einsetzen.

7. Welche gezielten Maßnahmen wurden an Schulen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Heimen durchgeführt?

Zu 7.: Der für Wohnangebote für Menschen mit Behinderung zuständige Fachbereich der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales ist im ständigen Gespräch mit den Trägern von Wohnangeboten (Heimen, Wohngemeinschaften, Betreutes Einzelwohnen) für Menschen mit Behinderung. Thema ist dabei regelmäßig auch die Sicherstellung, dass keine Gewalt gegenüber behinderten Bewohnerinnen und Bewohnern ausgeübt wird.

In dem jährlich zu erstellenden „Bericht zur Struktur und Leistung der Einrichtung sowie Maßnahmen der Qualitätssicherung“ haben die Träger von Wohnangeboten für Menschen mit Behinderung u. a. auch über Gewaltvorkommnisse und entsprechende Gegenmaßnahmen zu berichten. Darüber hinaus prüft die Heimaufsicht im Rahmen der Prüfung gem. § 15 HeimG (Heimgesetz) in Heimen für Menschen mit Behinderung u. a. auch, ob es zu Übergriffen gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern gekommen ist und welche Maßnahmen ergriffen wurden.

Für den besonderen Fahrdienst für Menschen mit Behinderung in Berlin wurden im Rahmen der zu erbringenden Beförderungsleistungen erhebliche Anforderungen an die Leistungserbringung vertraglich geregelt.

Es ist sichergestellt, dass Verstöße gegen das Vertragsverhältnis – u. a. jegliche Form von sexuellen, psychischen und physischen Übergriffen – für jeden Einzelfall zu einer Vertragsstrafe führen kann.

Erkenntnisse zu gezielten Maßnahmen an den Berliner Schulen liegen derzeit nicht vor. In den Sonderpädagogischen Förderzentren werden gemäß den Rahmenlehrplänen Inhalte zur Selbstbestimmung, Selbstbehauptung und einer damit verbundenen Stärkung der eigenen Persönlichkeit vermittelt.

8. Wie wurden Lehrerinnen und Lehrer, Erzieher und Erzieherinnen und anderes Fachpersonal dies bezüglich qualifiziert?

Zu 8.: Im Rahmen der Fortbildung des pädagogischen Personals an den Berliner Schulen gab es im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 8. Juli 2008 zum Themenfeld „Gewaltfreie Schulkultur / Gewaltprävention“ insgesamt 209 Fortbildungsveranstaltungen, die von 2.912 Teilnehmer/-innen besucht wurden.

9. Werden in Berlin Plätze in Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen von Frauen mit Behinderung in Anspruch genommen, wenn ja von wie vielen und in welchen Zeiträumen?

10. Wie viele Migrantinnen haben die Angebote genutzt?

11. Sind die Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen barrierefrei?

Zu 9., 10. und 11.: In Berlin stehen Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, und ihren Kindern, insgesamt 6 Frauenhäuser und 40 Zufluchtswohnungen als Schutzunterkünfte zur Verfügung. Die Einrichtungen und Beratungsstellen werden auch von Frauen mit unterschiedlichen Behinderungsformen genutzt und sind teilweise barrierefrei. Barrierefrei für mobilitätsbeeinträchtigte Frauen ist das Frauenhaus Bora (1 Platz). Ein weiteres Angebot für Frauen mit einer Mobilitätsbeeinträchtigung hält Frauenzimmer e.V. mit einer Zufluchtswohnung bereit (2 Plätze). Darüber hinaus verfügt diese Zufluchtswohnung über Punktmarkierungen für blinde Frauen. Das Projekt Augusta bietet speziell für gehörlose Frauen eine Zufluchtswohnung mit 3 Plätzen an. Die Wohnung ist mit entsprechender Gehörlosentechnik aus gestattet. Zudem erlernen die Mitarbeiterinnen die Gebärdensprache und verfügen über Grundkenntnisse. Die Anzahl der behinderten Frauen in Frauenhäusern wird erst seit Januar 2008 statistisch erfasst. Aussagefähige Zahlen werden erstmals Anfang 2009 vorliegen. Auch für die Zufluchtswohnungen insgesamt wird zukünftig eine statistische Erfassung erfolgen. Momentan liegen Belegungszahlen für die Zufluchtswohnungen von Frauenzimmer und Augusta vor. Im Jahr 2007 haben 3 Frauen mit einer Körperbehinderung die Zufluchtswohnung von Frauenzimmer e.V. belegt und 3 gehörlose Frauen die Zufluchtswohnung von Augusta. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 60 % der Frauen in Schutzunterkünften Migrantinnen sind. Der Anteil der behinderten Frauen mit Migrationshintergrund wird nicht erfasst.

12. Sind die Betreuer in diesen Einrichtungen für die besonderen Probleme von Frauen mit Behinderung sensibilisiert und entsprechend geschult?

Zu 12.: Für die Mitarbeiterinnen der Hotline der Berliner Interventionszentrale gegen häusliche Gewalt (BIG-Hotline), dem telefonischen Informations- und Beratungsangebot für Opfer häuslicher Gewalt, fand bereits im Jahr 1999 eine Fortbildung zum Thema „Behinderte Frauen als Opfer häuslicher Gewalt“ statt. Die Antigewaltprojekte des Berliner Frauennetzwerks (BFN) wurden 2006 in einer Fortbildung für die besonderen Bedürfnisse behinderter Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, sensibilisiert. Darüber hinaus hat das BFN „Behinderte Frauen“ zum Jahresthema 2007/2008 fokussiert. Die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen sind zum großen Teil für die besondere Situation behinderter Frauen sensibilisiert. Die seit Anfang 2007 bei der BIG in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen und dem Netzwerk behinderter Frauen Berlin e.V. eingerichtete interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Schutzmaßnahmen und Unterstützungsangebote für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen mit Behinderungen (und ihre Kinder)“, in der auch die Bereiche Polizei, Frauenhäuser, Zufluchtswohnungen und die BIG-Hotline vertreten sind, verfolgt das Ziel der Optimierung der Hilfeangebote für behinderte Frauen und gleichzeitig auch der Sensibilisierung der einzelnen Bereiche im Kooperationsverbund. In der Arbeitsgruppe erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen behinderter Frauen und den unterschiedlichen Anforderungen an die Projekte. Derzeit wird eine umfangreiche Bedarfsanalyse für die einzelnen Behinderungsformen erstellt, anhand derer der Bedarf an behinderungsspezifischer Prävention und Intervention dokumentiert wird.

13. Gibt es Angebote für gehörlose Frauen, d.h., steht bei Inanspruchnahme von Beratungsangeboten und Frauenhäusern Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung?

Zu 13.: Hinsichtlich der Angebote für gehörlose Frauen wird auf die Beantwortung der Fragen 9., 10. und 11. verwiesen. Die Projekte sind bemüht, für gehörlose Frauen bei Beratung oder Aufnahme in ein Frauenhaus oder eine Zufluchtswohnung Gebärdendolmetscherinnen hinzuzuziehen. Aufgrund der in der AG „Schutzmaßnahmen und Unterstützungsangebote für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen mit Behinderungen (und ihre Kinder)“ erarbeiteten Ergebnisse der Bedarfsanalyse für den Bereich der gehörlosen Frauen, wird seitens der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen eine Verbesserung der Angebotsstruktur für diese Opfergruppe in naher Zukunft angestrebt.

Berlin, den 25. Juli 2008
In Vertretung Kerstin Liebig
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales
(Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. August 2008)