Lassen Sie uns Lichtenberger Vorbild sein!
Liebe Lichtenbergerinnen und Lichtenberger,
wenn ich in den vergangenen Tagen und Wochen die Nachrichten im Fernsehen gesehen, die Zeitung aufgeschlagen, Meldungen auf Facebook oder Twitter verfolgt habe: das Thema Flüchtlinge war ganz nah. Auch in Gesprächen mit meiner Familie oder Freunden. Sicher ist es Ihnen ähnlich ergangen. Es ist das Thema des Jahres. In Europa, in Deutschland, in Berlin und auch hier bei uns in Lichtenberg. Spätestens seit wir sehr kurzfristig die Notunterkunft in Karlshorst eröffnet haben, hat dieses Thema in unserem Bezirk eine neue Dimension erreicht. Und – so viel sei schon vorab gesagt: In Zukunft wird es noch weitere Flüchtlingsunterkünfte in Lichtenberg geben!
Menschen verlassen ihre Heimat nicht aus Jux und Tollerei. Sie fliehen vor Krieg, Zerstörung oder Verfolgung, haben oftmals alles verloren, konnten nur retten, was sie am Leibe tragen. Meine Mutter war 1945 selbst ein Flüchtlingskind. Die traumatischen Erfahrungen dieser Zeit wird sie nie vergessen. Und sie wirken in mein politisches Handeln bis heute hinein.
In den letzten Wochen hat sich die öffentliche Debatte zu dem Thema erfreulich verändert: Die Lautesten und Sichtbarsten sind heute diejenigen, die den Ankommenden ein aufmunterndes „Willkommen“ entgegenrufen und zugleich mit anpacken. So wie die Menschen am Münchener Hauptbahnhof, in der Notunterkunft in Karlshorst, im Containerdorf Falkenberg und an vielen anderen Orten.
Willkommenskultur ist keine Phrase. Viele Menschen leben sie bereits: Sie stellen Liegen auf, begleiten Flüchtlinge bei Amtsbesuchen, spenden Dinge, die dringend gebraucht werden, und organisieren mit Hilfe von Unternehmen und Vereinen, was noch fehlt. Die vielen Spenden wiederum haben weitere engagierte Helferinnen und Helfer auf den Plan gerufen. Diese haben beispielsweise über Tage hinweg Kleidung sortiert und Ordnung in das Chaos gebracht. In den vergangenen Wochen hat sich so ein Netzwerk von engagierten Menschen etabliert, die dauerhaft den Neuankömmlingen in Lichtenberg helfen. Meine Mitarbeiterin für Flüchtlingsfragen, Irina Plat, (zu erreichen unter fluechtlinge@lichtenberg.berlin.de) bekommt täglich Hilfsangebote, die sie weitervermittelt.
Momentan kommen die Menschen über Ungarn und Österreich vor allem zu uns. Trotz der vorübergehenden Grenzkontrollen werden die Menschen nicht aufgeben oder sogar wieder umdrehen. Von Süden aus werden die Ankommenden auf das ganze Bundesgebiet verteilt. Auch nach Berlin. In Lichtenberg haben wir jüngst die Unterkünfte in Karlshorst und Falkenberg eröffnet und sie binnen weniger Tage bis an die Kapazitätsgrenze gefüllt. Einige der vorhandenen Unterkünfte werden ausgebaut, andere eröffnen demnächst. Anfang September habe ich erfahren, dass auf dem ehemaligen MfS Gelände in der Ruschestraße Platz für mehrere hundert Flüchtlinge geschaffen wird. Zuvor müssen allerdings zahlreiche gravierende bauliche Mängel und Sicherheitslücken behoben werden. Ende September wird die Unterkunft voraussichtlich bezogen. Dazu wird es zeitnah eine Anwohnerversammlung geben, zu der ich einlade, sobald das Land Berlin einen Betreiber gefunden und den Termin für den Belegungsbeginn benannt hat.
Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es nach dem Bezug der Ruschestraße keine weiteren Flüchtlingsunterkünfte in Lichtenberg geben wird. Wir alle wissen nicht, wie viele Flüchtlinge noch unterwegs nach Deutschland sind. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.
Von der Europäischen Union und vom Bund erwarte ich ein Gesamtkonzept dazu, wie heute und in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten mit den Flüchtlingen umgegangen werden soll. Wir als Bezirk Lichtenberg brauchen außerdem die Unterstützung des Landes. Es müssen ausreichend Schul- und Kitaplätze sowie Wohnraum bereitgestellt, der Öffentliche Personennahverkehr erweitert, die medizinische und sozio-kulturelle Versorgung sowie die berufliche Ausbildung und Integration in den Arbeitsmarkt gesichert werden. Alle Fragen der Infrastruktur betreffen Einheimische und Flüchtlinge gleichermaßen und drängen deshalb besonders. Wer diese Frage nicht kurzfristig und spürbar beantwortet, gefährdet den sozialen Frieden.
Sie und ich, wir alle müssen uns entscheiden, wie wir mit der entstandenen Situation umgehen wollen. Bei aller Ungewissheit und auch berechtigter Sorgen sollte meiner Meinung nach vor allem Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität unser Handeln bestimmen.
Und natürlich müssen auch Politik und Verwaltung ihre Hausaufgaben machen und das Machbare gut strukturiert und unter Einbeziehung des überwältigenden Bürgerengagements organisatorisch auf die Reihe bekommen.
Lassen Sie uns mit der Situation positiv umgehen. Lassen Sie uns Lichtenberger Vorbild sein! Gehen wir offen auf die Menschen zu und integrieren sie in unsere Gemeinschaft! Das hilft uns gleichzeitig, vorhandene Missstände zu beseitigen und einen echten Mehrwert für unsere Gesellschaft zu schaffen. Flüchtlinge, die arbeiten, sind Menschen, die in unsere Sozialsysteme einzahlen! Sie zahlen Steuern, geben ihr Einkommen auch wieder aus und kurbeln so unsere Wirtschaft an. Flüchtlinge im Sportverein steigern die Mitgliedszahlen und sichern die Zukunft der Vereine. Flüchtlinge mit Kindern wirken der Überalterung entgegen und bezahlen unsere Rente. Das alles funktioniert aber nur, wenn wir sie mitmachen lassen und ihnen die Möglichkeit geben, zu arbeiten.
Die letzten Wochen geben mir hier große Hoffnung. In Karlshorst und Falkenberg wurden die Neu-Lichtenberger willkommen geheißen. Bis heute hält die Bereitschaft der Alt-Eingesessenen an, sich um ihre neuen Nachbarn zu kümmern. An den Wochenenden gibt es unter anderem Konzerte der jungen Philharmoniker und anderer Künstler in der Karlshorster Unterkunft. Bei solchen Aktionen zeigt sich immer wieder die große Dankbarkeit der Bewohner. Das alles erzeugt eine positive Grundstimmung, die alle motiviert, weiter mit anzupacken. Die Flüchtlinge wollen vor allem Deutsch lernen und arbeiten, niemandem mehr auf der Tasche liegen. Sie drängen danach, sich einzubringen und ihre weitere Zukunft aktiv zu gestalten. Lassen Sie uns ihnen gemeinsam dabei helfen!